Man muss nur klicken können
Von Dragan Espenschied, 10.01. 2001, 15:02:30

AOL als »Was Passiert Dann?«-Maschine
 
 
Dass bestimmte Dinge mit Computern besonders einfach zu bewerkstelligen sind liegt meistens am Interface einer Software. Ein gutes Interface macht einfache Aufgaben einfach und schwierige Aufgaben möglich: Empowerment of the Individual. – Schlechte Interfaces bevormunden und gängeln die Benutzer oder drängen ihnen unpassende Vorstellungen auf. AOL bringt 24 Millionen Menschen »ins Internet«, sorgt jedoch mit dem Interface der AOL-Software dafür, dass es garantiert niemand verstehen wird.
 
Oberflächen sind Oberflächen
 
 
1998 führe Compaq eine Tastatur mit vier Spezialtasten ein: Wenn der Benutzer auf die Suchen-Taste drückte, wurde sofort die Suchmaschine Alta-Vista gestartet. Plötzlich hing die Verwendung einer Suchmaschine davon ab, wo man seinen Computer gekauft hatte. Ein Benutzer weiß nicht, wo er sich befindet, wenn er auf »Das Beste im Web« oder eine »Suchen«-Schaltfläche klickt. Diese Schaltflächen oder Tasten bringen den Benutzer zu einer vorgefassten Sicht der Welt.

Tim Berners-Lee: Der Web-Report. Econ, 1999, Seite 194
 
 
»Clicken Sie hier!« 1994
 
 
Das »AOL-Postamt« zeigt sehr deutlich, wie viel Intelligenz AOL seinen Benutzern zutraut.
 
  Der Unterschied zwischen einem klassischen Online-Dienst und Inhalte-Anbieter wie AOL und einem handelsüblichen Provider, der seinen Kunden über Einwahlpunkte Zugang zum Internet ermöglicht, ist vor allem geschichtlich begründet.

Noch 1995 war es keinesfalls allgemeiner Konsens, dass die Zukunft des e-commerce oder überhaupt von irgend etwas im Internet läge. Stattdessen prophezeite man, dass proprietäre Online-Dienste wie AOL, Datex-J, Compuserve oder MSN die Massen ans Netz bringen würden – aber nicht ans Internet.
 
 
Der Startschuss ist gefallen, das Rennen um den millionenschweren deutschen Online-Markt geht in die erste Runde.

[...]

Bertelsmann beispielsweise tat sich bereits Anfang des Jahres mit dem derzeitigen Spitzenreiter America Online zusammen und bewies damit den richtigen Riecher. 50 Millionen in deutscher Währung legten die Medienmanager aus Gütersloh auf den Tisch, die Amerikaner ließen sich nicht lange bitten.

Weitere 150 Millionen läßt sich der Medienriese den Aufbau eines breitgefächerten Informations- und Unterhaltungsangebotes kosten, das in deutscher, englischer und französischer Sprache verbreitet werden soll. Nach einer längeren Experimentierphase entschieden sich die Gütersloher Online-Planer, den etablierten Namen des amerikanischen Vorbildes einfach zu übernehmen. »Die drei Buchstaben (AOL, Anm. d. Red.) sind Bestandteil auf Visitenkarten und Geschäftspapieren und sollen bald die Zugehörigkeit zu einer globalen elektronischen Gemeinschaft kennzeichnen«, erläutert Jan Henric Buettner, Sprecher der Geschäftsführung von AOL Bertelsmann Online, die langfristige Strategie seines Unternehmens.

Michael Kurzidim: Wundertüte, in c't 11/95, Seite 68
 
  Im Gegensatz zu Initiativen wie Link in neuem Fenster anzeigenXS4ALL in Amsterdam oder privaten Internet-Vereinen wie Link in neuem Fenster anzeigensaar.de boten diese Online-Dienste zuerst keinen Zugang zum Internet. Soetwas wie »die eigene Homepage«, das private oder geschäftliche Registrieren von Domain-Namen oder deren Entsprechung im Online-Dienst (beispielsweise die »Kennwörter« bei AOL) gab es nicht. Stattdessen wurden von einer für den Dienst arbeitenden Redaktion Inhalte und verschiedene Kommunikations-Dienste wie E-Mail oder Instant Messanging für die Mitglieder bereitgestellt. Alle diese Services basierten nicht auf offenen Protokollen sondern standen unter der Kontrolle des jeweiligen Besitzers des Dienstes.  
  Bis heute haben sich viele dieser Rahmenbedingungen in Online-Diensten erhalten. Zwar bieten sie heute ausnahmslos den Zugang zum Internet an, die eigenen Angebote existieren jedoch parallel oder dominant weiter. Der möglichst einfache Zugang zum Internet (so dass es auch Boris Becker hinbekommt) ist jedoch zum hauptsächlich beworbenen Feature geworden.  
 
Interfaces transportieren geistige Modelle
 
  Am Beispiel der AOL 4.0-Software soll gezeigt werden, dass bestimmte Design-Entscheidungen in der Benutzeroberfläche die Vorstellung des Anwenders vom Internet oder »Online-Sein« stark beeinflussen. AOL ist nicht das selbe wie »das Internet«, noch weniger als beispielsweise der Netscape Navigator mit dem Internet gleichzusetzen ist. Durch die Interfaces der Programme entsteht jedoch ein geistiges Modell von der Funktionsweise des benutzen Mediums:

Computer sind Modellierungssysteme. Sie sind darin sogar so gut, dass man leicht vergisst, dass die Welten, die sie schaffen, überhaupt keine Welten, sondern eben Modelle sind.

Douglas Rushkoff in Telepolis: Link in neuem Fenster anzeigen»Von Computern und Modellen« (August 2000)
 
  »Empowerment of the Individual« ist eins der wichtigen Schlagworte in der digitalen Revolution. Der Erfolg von Systemen für den Endanwender hängt sehr stark von den verwendeten Interfaces ab, denn diese bestimmen, ob die Anwender sich überfordert, hereingelegt, gestresst, versklavt oder eben empowered fühlen.  
  Im Idealfall führt ein schlechtes Interface dazu, dass Anwender vor der Software reißaus nehmen, auf eine alternative Software umsteigen oder eben dankend auf die versprochenen Segen wie Homebanking oder Medienkonvergenz verzichten. Der größte Teil der Anwender ist sich jedoch nicht bewusst, dass Software keinesfalls als gottgegeben hingenommen werden muss. Anstatt bei Fehlern oder unerwünschten Ergebnissen die Programmierer schlechter Software verantwortlich zu machen, halten sie sich selbst für unfähig, eine Aufgabe mit »dem Computer« zu lösen. Sie ordnen sich der Software unter:  
 
[Unexperienced users] may be fearful of making mistakes, anxious about damaging the equipment, worried about feeling incompetent or threatened by the computer »being smarter than I am.« These fears are generated, in part, by poor designs that have complex commands, hostile and vague error messages, torturous and unfamiliar sequences of actions, or a deceptive anthropomorphic style.

Ben Shneiderman: Designing the User Interface; Dritte Auflage von 1998, Addison Wesley Longman Publishing Co, New York; Seite 31
 
 
Der AOL-Blindenstock
 
  Eine typische AOL-Sitzung beginnt mit dem Start des AOL-Programms, welches sofort ein Fenster über den gesamten verfügbaren Bildschirm öffnet. Der Zugang zu anderen Programmen, wie beispielsweise einem Web-Browser oder Mail-Client, wird dadurch erschwert, sie sind schlicht verdeckt.  
 
Die AOL-Startseite, von der aus sich alle weiteren Angebote erreichen lassen
 
  Nach dem Anmeldevorgang öffnen sich innerhalb des großen AOL-Fensters wiederum kleine Fenster mit immer den gleichen Ausmaßen, welche die AOL-Inhalte enthalten. Die Ähnlichkeit mit dem klassischen Web ist recht groß, das heißt es gibt Seiten, Texte, Links und vor allem häßliche und Downloadzeit-intensive Grafik. Es existiert jedoch keine Option, um den Inhalt einer angeschauten Seite zu speichern oder zu bearbeiten – beispielsweise zur Erstellung eines Archives interessanter Meldungen oder zur Weitergabe der Daten an Personen, die nicht über einen Netzzugang verfügen.  
  Die Auswahl jedes AOL-Links führt zum Öffnen eines weiteren Fensters, das immer in der Mitte des Bildschirms erscheint. Mit der Zeit überlagern sich also eine ganze Menge Fenster, eine Übersicht über geöffnete Fenster gibt es nicht. Ebenso existieren keine durchgehenden Navigationselemente, die es beispielsweise erlauben würden, auf eine vorhergehende Seite (Fenster) zurückzukehren. Die herausstechenden Richtungspfeile in der AOL-Kopfzeile sind nur für die Web-Navigation zu gebrauchen; innerhalb des AOL-Angebots sind sie nutzlos.  
 
Eine typische Anzeige mit Elementen, die wie Buttons zur Fenster-Kontrolle aussehen, aber keine sind. »Fenster schließen« wird zu »Werbung zeigen«.
 


[1] Während ein Button eine Aktion wie zum Beispiel »Fenster schließen« oder »Dokument Drucken« oder »Daten ins Internet übertragen« auslöst, ist ein Link ein Verweis auf verwandte Inhalte. Auch die neuen Versionen des Windows-Explorers und Outlook verwischen dieses klare Konzept

[2] CopyPaste beschreibt ein einfaches System, mit dem Inhalte zwischen verschiedenen Programmen oder innerhalb eines Programms dupliziert (copy) und an anderer Stelle wieder eingesetzt (paste) werden können. In Windows funktioniert das üblicherweise über die Tastenkombination Strg+C und Strg+V und wird von kleinen Textschnipseln wie E-Mail-Adressen bishin zu Bildern, Geräuschen, Romanen etc ... verwendet
Schaltflächen, Werbeanzeigen und Schmuckelemente lassen sich aufgrund des allgemein chaotischen Grafikdesigns nicht unterscheiden. Einige Fenster enthalten im Inhalts-Bereich Buttons zum Schließen des Fensters, andere nicht. Viele der teilweise penetrant animierten Werbeanzeigen sind mit gefälschten Fenster-Elementen ausgestattet, die anstatt die gewünschte Funktion (zum Beispiel Schließen des Fensters) weitere Fenster mit Werbeinhalten öffnen. Zwischen Links und Buttons wird bei AOL nur ungenügend unterschieden, einige Buttons erzeugen neue Fenster und der Mauspfeil verändert sich über einem Button zu einer zeigenden Hand, genau wie bei Links.[1]

Selbst auf das sonst systemweit funktionierende CopyPaste[2] kann man sich bei AOL nicht mehr verlassen. Hier lässt sich der schwafelige Werbetext für die Segelflugwetter-Rubrik ins Clipboard übertragen, der eigentliche Wetterbericht kann jedoch nur gedruckt werden.
 
  Inhaltlich gliedert sich das AOL-Angebot in Bereiche wie Nachrichten, Lokales, Computing, Spiele und so weiter. Dabei handelt es sich um AOL-eigene Inhalte. Das auf Web reduzierte »Internet« ist eine Option unter vielen.  
  Wer einem Link innerhalb des AOL-Angebotes folgt, kann nie sicher sein, ob der Link nun tatsächlich auf die versprochenen Inhalte führt, zuerst noch eine Zwischenseite mit weiteren Links erscheint oder sich das Ziel des Links gar im Web befindet. Mit einem handelsüblichen Webbrowser läßt sich aufgrund der angezeigten Ziel-Adresse eines Links zumindest grob abschätzen, wohin es geht.  
 
Inhaltiche Vorselektion selbst bei persönlichen Nachrichten
 
  Der e-Mail-Teil von AOL verhält sich besonders mystisch: Das Hinzufügen eines Links, eines Bildes, einer Tondatei oder eines Hintergrundmusters in eine Nachricht wird über den Menüpunkt »EXtras« geregelt. Zuerst muss ausgewählt werden, welche Kategorie von Dingen an die Nachricht angehängt werden soll. Zur Auswahl stehen Bilder, Links und Töne. Daraufhin öffnet sich ein jeweils ein weiteres Fenster, in dem aus einer Liste von AOL vorgegebenen Bilder, Links oder Tönen ausgewählt werden kann, die dann der bereits angefangenen Nachricht angefügt werden oder manchmal auch in einem vollkommen neuen Nachrichtenfenster erscheinen.  
  Nicht nur, dass AOL durch die Vorgabe von Hyperlinks versucht, seine Mitglieder zur Weiterempfehlung von AOL-Angeboten zu instrumentalisieren, diese Links sind für eventuelle Empfänger der Nachricht, die kein AOL verwenden, sinnlos. Selbst von den angehängten Bildern (deren Rechte laut Beschriftung mit wenigen Ausnahmen bei Photodisc liegen) bleibt für nicht-AOL-Mitglieder lediglich »[unable to display image]« übrig.  
 
Dreister geht es kaum noch: Die ganze Welt des Hyperlinks, vorselektiert von AOL
 
  Der AOL-Webbrowser verhält sich in vielen Dingen anders als das eigentliche AOL-System: Verfolgte Links werden nicht automatisch in einem eigenen Fenster dargestellt, stattdessen erscheint alles im gleichen Fenster. Die Benutzung der Navigations-Pfeile in der AOL-Kopfleiste ist möglich, das AOL-Stichwort-Eingabefeld zeigt nun die üblichen Web-URLs an. Wer also, wie vom restlichen AOL gewohnt, einfach das aktuelle Fenster schließt, um zur vorherigen Seite zu gelangen, beendet gleich den ganzen Browser. Das gesamte Web verhält sich also wie eine einzige Seite aus dem AOL-Angebot.  
 
AOL kümmert sich um alles
 
  Der Anwender erhält in keinem Fall auch nur annähernd ausreichendes Feedback über eben aktivierte oder gerade laufende Aktionen. Der Klick auf einige AOL-Links bewirkt erst einmal gar nichts. Es kann gut sein, dass Minuten später plötzlich ein Fenster erscheint, das die gewünschte Seite enthält. Woher es dann gekommen ist, lässt sich jedoch nicht mehr feststellen. Teilweise ist das ganze Programm ohne Angabe von Gründen eingefroren. Besonders hilflos steht man auch der lapidaren Meldung »Wir erneuern ihre Datenbank« gegenüber: AOL übernimmt die Kontrolle über den Rechner und hält es nicht für notwendig, genauer darzulegen, was eigentlich geschieht.  
 
Etwas anderes als zu warten bleibt einem hier garnicht übrig.
 
  Selbst beim Beenden der Sitzung wird nicht flugs die Verbindung zum AOL-Netzwerk unterbrochen; vorher wird noch ein Fenster geladen (was unter Umständen wieder Minuten dauern kann), das Teaser, weitere Links ins AOL-Angebot und verwirrend beschriftete Buttons enthält. Wer also genau bestimmen will, wann der Rechner nun Telefonkosten verursacht, zieht besser einfach den Modemstecker aus der Telefondose.  
 
Der Abschied fällt schwer ...
 
 
Bunt heißt nicht einfach
 
  Zusammengefasst enthält die AOL-Software so viele Inkonsistenzen und Bevormundungen, dass es unmöglich ist, sie alle aufzuzählen. Hinter einem großen Teil der Verhaltensweisen des Programms steckt entweder kein System oder es werden einfachste für das restliche Betriebssystem standardisierte Modelle untergraben. Der insgesamte souveräne Umgang mit dem Computer und dem Netz wird durch solche vermeintlichen Vereinfachungen nicht gerade gefördert.  
 
Surprising system actions, tedious sequences of data entries, inability or difficulty in obtaining necessary information, and inability to produce the action desired all build anxiety and dissatisfaction. Gaines captured part of this principle with his rule avoid acausality and his encouragement to make users initiators of actions rather than the responders of actions.

Ben Shneiderman: Designing the User Interface; Dritte Auflage von 1998, Addison Wesley Longman Publishing Co, New York; Seite 75
 
  Bei AOL wird der Benutzer eindeutig zum »responder of actions«. Man arbeitet für den Computer. Dieser erledigt zwar allerhand rätselhafte Dinge vollautomatisch, der Preis dafür ist jedoch eine im höchsten Maße bevormundene Gängelung.  
 
Es ist leicht, zufrieden zu sein, wenn das einzige Problem, das man hat, darin besteht, wohin man seine Spucke tropfen lässt.

Woody Allen in »Die letzte Nacht des Boris Gruschenko« (USA 1974) über den Dorftrottel
 
  Den größten Vorwurf, den man AOL machen muss, ist dass viele Vorgänge dem Benutzer unnötigerweise verborgen werden. Ob es sich dabei um Absicht oder Unfähigkeit der Entwickler und Designer handelt, sei dahingestellt. Sicher ist es vermeindlich einfach, wenn man das Bild einer Bananenschale in die aktuelle Email einfügen möchte, erst auf »Extras«, dann auf »Fotos und Hintergründe«, dann auf »Bananenschale«, und letztendlich auf »Einer eMail hinzufügen« zu klicken. Was jedoch ist zu tun, wenn man ein eigenes Bild anhängen möchte, dessen Rechte weder bei AOL noch bei Photodisc liegen? Ein solches erscheint schließlich nicht in der von AOL bereitgestellten Liste.  
  Die gesamte AOL-Oberfläche ist anhand von Services aufgebaut (das Wort »gegliedert« wäre fehl am Platz), was konkret bedeutet: Das Feature »mit AOL kann man Bilder verschicken« resultiert in einem Button zum Verschicken von Bildern. Das Feature »Mit AOL kann man Töne verschicken« resultiert in einem weiteren Button zum verschicken von Tönen. Einen Abstraktionsschritt weiter – »mit AOL kann man Daten verschicken« --, der das ganze Interface wesentlich vereinfacht und dem Anwender zugleich auf Katzenpfoten die Funktionsweise des Netzes und des Computers als Datenspeicher nähergebracht hätte, wurde nicht gegangen. Obwohl es dem E-Mail-Programm vollkommen egal ist, welche Art von Daten es durch das Netz schickt, teilt die AOL-Software alles akribisch in Töne, Links, Fotos, Hintergrundbilder und so weiter ein. Ähnlich werden persönliche Nachrichten unterteilt in Instant Messages, Telegramme und EMails.  
  Auch dass eine Web-URL und sogar AOL-interne Adressen nichts weiter als Text sind, den man bequem über CopyPaste in eine EMail kopieren kann, bekommt der Anwender nicht unbedingt auf die Nase gebunden. Denn – wie bereits erwähnt --, auf das Funktionieren von CopyPaste kann man sich innerhalb von AOL nicht verlassen. Warum sollte es also auf einmal bei den URLs funktionieren? Für jeden Service (AOL, EMail, Chat, Web, Usenet) verwendet AOL nicht nur verschieden aussehende sondern auch verschieden funktionierende Interfaces. In einem Service gelernte Vorgehensweisen wie Kopieren, Adressieren oder Archivieren können auf keinen anderen Service übertragen werden.  
 
Vergleich mit Netscape
 
  Ganz anders das Konzept des Netscape Communicator, welches als Vorbild für die meisten heute verwendeten Browser diente: Daten, seien es HTML-Seiten, E-Mails, Bilder oder was auch immer, werden auf die gleiche Weise in einem Fenster dargestellt. Ist Netscape selbst nicht in der Lage, die Daten sinnvoll anzuzeigen (zum Beispiel ein Word-Dokument), wird zu diesem Zweck auf Wunsch ein externes Programm aufgerufen. Dieser Vorgang ist immer gleich, ob eine Datei nun an eine E-Mail angehängt wurde, in eine Website integriert ist oder sich auf der lokalen Festplatte befindet.

Beispiel einer an eine E-Mail angehängten Datei: Genau wie auf einer Webpage führt ein Link zu den entsprechenden Daten. Man beachte auch, dass persönliche E-Mails und öffentliche News-Foren im gleichen Interface untergebracht sind. Link in neuem Fenster anzeigenScreenshot in Originalgröße
 
  Die verschiedenen Datenquellen werden über einheitliche URL-Adressen angesprochen. Durch den vorangestellten Protokollnamen (http, https, ftp, news, ...) wird die Art der Datenübertragung (Hypertext, Diskussionsforum, ...) festgelegt, der Rest der Adresse enthält die Position der Daten in der Hierarchie des Netzwerkes oder der lokalen Festplatte.  
  Das Verfassen und lesen persönlicher E-Mails und UseNet-Nachrichten geschieht im gleichen Interface. Das Editieren einer Webpage verhält sich sehr ähnlich wie die Erstellung einer E-Mail oder das Ausfüllen von Web-Formularen. Aus jeder E-Mail, jedem Diskussionsbeitrag und jeder Webpage lässt sich der gesamte Inhalt inklusive Bilder kopieren. Die Hilfe-Funktion verwendet die gleichen Navigations-Icons wie der eigentliche Webbrowser. Nicht benutzbare Buttons werden ausgegraut und Ladevorgänge werden sinnvoll durch Animationen und Prozentwerte angezeigt, das Auswählen eines Links trägt dessen URL sofort in die Adresszeile ein.

Zum Erstellen einer E-Mail und einer HTML-Seite werden für die gleichen Funktionen auch die gleichen Interaktionen verwendet. Link in neuem Fenster anzeigenScreenshot in Originalgröße
 
  In Netscape gibt es grob gesagt also zwei Paradigmen: Das Editieren und das Anschauen oder Konsumieren von beliebigen Inhalten. Schon allein zum Editieren persönlicher Nachrichten zwingt AOL seinen Mitgliedern 4 verschiedene Interfaces auf.  
  Selbstverständlich hat das Netscape-Interface viele Schwächen, dem Konzept gelingt es jedoch, ein geistiges Modell des Netzes und sogar des lokalen Computers zu erzeugen, das sinnvoll abstrahiert und verhältnismäßig nahe an den tatsächlichen Strukturen ist. Die schon legendäre »View Source«-Funktion, die den Quellcode von HTML-Seiten anzeigt, rückte eine offene und einfache technische Grundlage des Webs erst ins Rampenlicht und trug wesentlich zu dessen Erfolg bei.  
 
this unprecedented transparency of the HTML itself, we got an enormous increase in the speed of design development. When faced with a Web page whose layout or technique seems particularly worth emulating or even copying outright, the question »How did they do that?« can be answered in seconds.

Clay Shirky: Link in neuem Fenster anzeigen»View Source... Lessons from the Web's massively parallel development.«, April 1998
 
  AOL hingegen bietet kein noch so weit hergeholtes einheitliches Modell vom Netz. Der Anwender reagiert also größtenteils auf bizarre bunte Interfaces, von denen irgendjemand wohl dachte, bunt sei gleichzusetzen mit einfach und einsteigerfreundlich. De facto ist AOL jedoch keinesfalls leichter zu bedienen oder zu installieren als beispielsweise jeder x-beliebige CallByCall-Provider zusammen mit Netscape als Browser. Das Netscape-Modell ermöglicht jedoch ein tiefergehendes Verständnis von den tatsächlichen Vorgängen. Die AOL-Software erzieht ihre Anwender letztendlich zu Konsumenten, die sich mit einem engen Kreis aus vorgefertigten Optionen abfinden.


Eine durch falsche Interfaces und falsche Berichterstattung (siehe das Kapitel Link in neuem Fenster anzeigen»… in den Medien«) gezüchtete Gleichgültigkeit und gesellschaftlich akzeptierte Ahnungslosigkeit lässt keine Kompetenz im Umgang mit dem Medium entstehen. Die Akzeptanz für inhaltliche Kontrolle wird gefördert, denn wer noch nicht einmal gelernt hat, mit ungefilterten Daten umzugehen, wird eine Einschränkung kaum bemerken. Siehe dazu auch das Kapitel Link in neuem Fenster anzeigen»Filter/Zensur/Kontrolle« und unser Link in neuem Fenster anzeigenExperiment.
 
 
 
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